Neue Höhenflüge
Wunderbares Programm mit beeindruckender Umsetzung. Zum 5. Philharmonischen Konzert der Spielzeit erlebt Gera den bisherigen Höhepunkt der Konzertsaison. Gubaidulina. Schostakowitsch. Tschaikowski. Liest sich schon einmal klangvoll. Und schwierig. Diesen Eindruck hatte wohl auch ein Teil des sonstigen Stammpublikums. Die Reihen diesmal leider vielfach gelichtet. Aber für diejenigen, die da waren, gab es fesselnde Musik.
Mit Sofia Gubaidulina steht nach Hans Gál beim 4. Konzert zum zweiten Mal in Folge eine moderne Tonsprache im Fokus. Gubaidulinas Märchenpoem erzählt von einer Schulkreide und ihrer Reise auf der Tafel. Diese ist so intim und gleichzeitig teilweise überraschend komisch geschildert, dass man als Zuhörer einer eigentümlichen Freude anteilig wird. Die großen stillen Abschnitte, das Innehalten, das Fühlen der Pausen gelingt dieses Mal bravourös, da es Laurent Wagner und sein Orchester verstehen, den großen Bogen zu finden. Besonders die Querflöten und Klarinetten faszinieren mit ihrem pittoresken Spiel. Im krassen Gegensatz zum künstlerischen Wert dieser Aufführung steht der Gradmesser des Publikums, dessen Dankesbekundungen kaum mehr als Applaus wahrzunehmen sind. Schade.
Dies sollte sich jedoch ändern. Mit Schostakowitschs 1. Violinkonzert kommt ein Stück auf die Bühne, dass durch Aufführungsverbote in der Sowjetunion ganze sieben Jahre auf seine Uraufführung warten musste. Und so haftet auch ihm, wie vielen Schostakowitsch-Werken der spannende Geschmack des Widerstandes an. Die Musik selbst ist einzigartig. Der Orchesterpart lebt von einer Stärke, die aus der Erde selbst gesogen zu sein scheint. Manchmal unglaublich kraftvoll, dann fein, dann wieder stürmisch. Wagner treibt das Orchester zu Höchstleistungen. Und es gibt sich keine Blöße. Seien es die Streicherparts im ersten Satz oder das brummende Zusammenspiel von Tuba und Kontrabässen im dritten- bis zur Pause scheint dem Philharmonischen Orchester heute alles zu gelingen. Den größten Anteil an der wahrhaftig beeindruckenden Vorstellung dieses Violinkonzertes trägt aber Judith Eisenhofer. Die sonstige Konzertmeisterin brilliert im Solopart. Sie spielt die Sologeige nicht nur vortrefflich, nein, sie lebt das Stück! Brodelnd, ja vor Emotionen kochend, holt sie alles aus ihrer Geige heraus. In den teilweise sehr schweren Solopartien, besonders, wenn im dritten Satz das Orchester über fünf Minuten lang schweigt und der Solist ein ungeheuer virtuoses Spiel vorlegt, nahe an der Grenze zur Improvisation, ist Eisenhofer über jeden Zweifel erhaben. Die Orchesterleitung um Generalmusikdirektor Wagner darf sich zur Entscheidung gratulieren, die Solovioline aus den eigenen Reihen besetzt zu haben- ein voller Erfolg! Und so bleibt diesmal der wohlverdiente Applaus nicht verborgen. Selbst die sonst teilweise nervenden, notorischen Bravorufe und Jubelstürme sind diesmal auf der richtigen Schiene. Kein Wunder nach der definitiv besten ersten Konzerthälfte der Spielzeit.
Und im zweiten Teil? Tschaikowskis 4. Sinfonie präsentiert Wagner unglaublich massiv, an Kraftgehalt kaum zu überbieten. Die Blechbläser erreichen Glanzwerte und auch das Schlagwerk bekommt endlich etwas zu tun. Von Verliebtheit, dem Motiv Tschaikowskis als er mit der Komposition der Sinfonie begann, ist zwar kaum noch etwas zu spüren, dafür ist auch hier wieder die große Linie erkennbar, die Wagner zu zeichnen vermag.
Diese durchgehende Linie, der große Bogen, ist auch der entscheidende Pluspunkt des gesamten Konzertes, was es zum vielleicht rundesten der Spielzeit macht. Das Orchester darf sich in Zukunft gern daran messen lassen. Außerdem zeigt sich Geras Bläserensemble wiederholt in Bestform. Gewinner sind einmal mehr die vortrefflichen Holzbläser. Gemeinsam mit der außergewöhnlichen Programmgestaltung und Wagners ausgewogenem künstlerischen, Stil geht ein, in der Gesamtheit zwar viel zu schweres, aber für Liebhaber grandioses Konzert zu Ende.
Felix Lorber