Offener Brief

Frau Staatsministerin Prof. Monika Grütters
Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien

Gera, den 22. Dezember 2015
Betr.: Theater- und Orchesterreform in Thüringen

Sehr geehrte Frau Staatsministerin,
wäre ich so unverfroren, der Kulturstaatsministerin den Sinn von Kunst darstellen zu wollen, zitierte ich Fr. Nietzsche: Wir haben die Kunst, um nicht an der Wirklichkeit zugrunde zu gehen.“
Was aber, wenn die Kunst an der (vermeintlichen) Wirklichkeit zerschellt?
In Thüringen, dem Herzen der deutschen historischen Hochkultur, sehen sich Staatskanzlei und Städte von der Lage der öffentlichen Kassen genötigt, die Theater- und Orchesterlandschaft umzustrukturieren. Vor zwei Monaten hat der Chef der Thüringer Staatskanzlei und Minister für Kultur Benjamin-Immanuel Hoff ein dahingehendes Arbeitspapier veröffentlicht, das seitdem Gegenstand heißester Diskussionen und Polemiken ist.
Man könnte freilich die gewohnte Entrüstungstrompete blasen, die Kommunal- und Landespolitiker laut beschimpfen und, wie schlechte Schauspieler, mit Tomaten bewerfen. Diese aber sind nicht durchwegs zu rügen, müssen sie doch stetig schrumpfende Regionen verwalten. Wo weniger Einwohner sind, sinkt die Theaternachfrage, das Angebot muss diesem Umstand Rechnung tragen und der Nachfrage angepasst werden. Klingt logisch, sind ja Demographie und Kultur eng miteinander verknüpft.
Die neuen Bundesländer sind seit der Wende in einen Circulus vitiosus des Schrumpfens geraten. Wir brauchen einen Circulus virtuosus des Wachstums. Müßig, die Frage, ob man mit der Demographie oder mit der Kultur anfangen soll.
Unmittelbar nach der Wende konnte man ja noch nachvollziehen, dass Umstrukturierungen notwendig waren, dass die Dichte des Kulturangebots sich der demographischen und der wirtschaftlichen Realität in den sogenannten „neuen Bundesländern“ anpassen musste. So wurde immerhin die Zahl der Orchestermusiker in Thüringen in den letzten 25 Jahren so gut wie halbiert…

Jetzt aber reicht’s!!! Inzwischen geht es Deutschland wirtschaftlich und finanziell so gut wie nie in seiner ganzen, langen Geschichte. Deutschland ist die erste Exportnation der Welt ; Deutschland gehört zu den äußerst seltenen Ländern, die ihre Verschuldung im Griff haben ; Deutschland hat dieses Jahr, dank einer Politik, die vom größten Teil der Bevölkerung mitgetragen wurde, zum ersten Mal seit Jahrzehnten einen Überschussetat. Wenn es in einer solchen Situation heißt, an der Kultur müsse noch mehr gespart werden, kann man es nur so deuten, dass die auf Bundesebene politisch Verantwortlichen die Kunst, die sogenannte „Hochkultur“, als inzwischen irrelevant abgeschrieben haben und den endgültigen Sieg der amerikanischen Subkultur sanktioniert haben, einer „Kultur“, die sich mit privaten finanziellen Interessen hervorragend verträgt und herzlich gern auf direkte staatliche Unterstützung verzichtet.
Sollte dem so sein, so würde ich erwarten, dass dies auch klar und deutlich gesagt wird.
Sollte dem aber nicht so sein, wovon ich noch gern ausgehen möchte, so würde ich erwarten, dass auf Bundesebene entsprechend gehandelt wird. Auf dem Spiel steht die Verrohung – bzw. deren Bekämpfung – weiter Teile der deutschen Gesellschaft. Auf dem Spiel steht – als Ausländer werde ich es wohl sagen dürfen – die Identität Deutschlands.
Sie werden mir die Kulturhoheit der Bundesländer entgegenhalten müssen. Wenn deren Kassen aber, aus welchen Gründen auch immer, zu wenig vom Wohlstand Deutschlands profitieren, muss doch der Bund in die Bresche springen, muss ein wie auch immer gearteter Ausgleich stattfinden.
Bin ich ein Träumer? Ja, selbstverständlich: Künstler müssen hin und wieder Träumer sein. Nur die – leider immer zahlreicheren – Zyniker werden darüber lachen. Träumer aber braucht die Welt, damit Pragmatiker deren Träume in die Wirklichkeit umsetzen. Nur so entwickelt sich eine Gesellschaft.
Ganze Landstriche im Osten fühlen sich verlassen, vergessen, gedemütigt, der Entfremdung im eigenen Lande überlassen. Dies ist der Nährboden für die Frustrationen, die sich in Fremdenhass entladen.
Wir leben in einer Zeit der Dekonstruktion. Unserer Generation obliegt, dem ein Ende zu setzen, sich dagegen vehement zur Wehr zu setzen, dass dieses prosperierende Land im Begriffe steht, das, was seine Identität, seine Seele ausmacht, zu zerstören. Dies tut einem wie mir umso mehr weh, der gerade aufgrund dieser Besonderheit Deutschlands vor dreißig Jahren den wohlüberlegten Schritt gegangen ist, sein Leben hier zu gestalten.
Die Flüchtlinge aus Syrien und dem Irak werden wir nur dann effizient und dauerhaft integrieren, wenn wir ihnen demonstrieren – nicht nur sagen – dass wir eine große Kulturnation sind und wir noch fähig sind, sie daran teilhaben zu lassen. Auch diese neuen Mitbürger brauchen langfristig mehr als nur Essen und ein Dach überm Kopf.
Deutschland soll mehr bleiben – und den Flüchtlingen mehr werden – als eine gewaltfreie Zone, mehr als ein attraktiver Umschlagplatz, mehr als eine GPS-Fläche auf der globalisierten Weltkarte.
Grundgesetz, Föderalismus, Kulturhoheit der Länder hin oder her: heute steht der Bund in der Pflicht.
Die Schönheit ist’s, die die Welt retten wird (Dostojewski)

 
Es grüßt hochachtungsvoll

 
Ihr
Laurent Wagner
Generalmusikdirektor
Philharmonisches Orchester Altenburg/Gera (Theater & Philharmonie Thüringen)